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POLITIK UND PSYCHOMOTORIK
von Rupert Schoch

„Vorfahrt für Arbeit“, „Sozial ist, was Arbeit schafft“, „Arbeit soll das Land regieren“; Parolen, die vor der Wahl deutlich machen sollten, dass ohne Arbeit kein menschenwürdiges Dasein zu haben ist. Schröder stürzte über sein Versprechen, Menschen in Arbeit zu bringen. Merkel wird sich noch wundern, wie Arbeit in Zeiten von Globalisierung einfach verschwindet und wieder wird dann jemand kommen, der auch sie der Lüge bezichtigt.
Wer über den machtpolitischen Tellerrand hinaus denkt, der wird feststellen: Die Arbeit reicht hinten und vorne nicht für alle. Maschinen sei Dank, sagen die einen, die anderen produzieren in Billiglohnländern. So oder so: Hierzulande ist ordentliche Arbeit rar geworden.

So singen einige schon mal leise das Lob der Faulheit. In der „Anleitung zum Müßiggang“, so der Titel eines vielgekauften Buches von Tom Hodginkons, wird deutlich, dass Nichtstun harte Arbeit ist und mühsam gelernt werden muss.
Noch aber singt die Mehrheit in unserem Land das Lob der Arbeit weiter, ganz so als wären die Menschen nur zu faul, um für einen Euro zu arbeiten, während andere wie Heuschrecken die Kassen plündern und Millionen durch Spekulationen und Börsenspielereien erbeuten.

In dieser Situation wächst vor allem den Psychomotorikern, Motopäden, Entspannungspädagogen, überhaupt allen Pädagogen eine verantwortungsvolle und wichtige Aufgabe und -Gott sei Dank- auch Arbeit zu.

Der Gang der Dinge: Arbeit als Religion

Die Verhältnisse sind nicht mehr so, dass gute Ausbildung zu guter Arbeit zu gutem Leben führt. Aber in unser Denken und vor allem in das Denken von Politikern ist davon noch nichts gedrungen. Sie feiern und verklären Arbeit in einer Weise, die bedenklich an den Satz „Arbeit macht frei“ erinnert, und vergessen , dass der auch schon mal am Eingang zum KZ Auschwitz stand.
„Das Ende der Arbeitsreligion“ so betitelt der Soziologe Wolfgang Engler einen Artikel (in der Taz vom 10 / 11. 09.05)und weist auf die gewaltige Aufgabe, die vor uns liegt, hin - nicht Reformen, eine säkuläre Reformation steht uns ins Haus.
Arbeit war nie besonders begehrt, wer es sich leisten konnte, lag lieber auf dem Bärenfell, überfiel seinen Nachbar, trieb ritterlichen Sport und ließ andere für sich arbeiten. Die Mehrzahl der Menschen mussten schon immer für andere arbeiten und es ist das historische Verdienst von linker, gewerkschaftlicher Politik, dass dies entsprechend gewürdigt und entlohnt wurde. Arbeit wurde so aufgewertet, dass auch schon mal daran gedacht wurde, die Werktätigen zur herrschenden Klasse zu machen. Das hat zwar nirgends funktioniert, Arbeit als Lebensgrundlage hat sich aber so in unseren Köpfen festgesetzt, dass, wer nicht arbeitet auch keine Menschenwürde besitzt. So kam es zu den ein Euro Job, weil ohne Arbeit kein Leben, kein Soziales, keine Freiheit, keine Kohle. Arbeit, Arbeit über alles.
Den Göttern „Wachstum, Wettbewerb, Lohnnebenkostensenkung“ wird weiterhin gehuldigt und durchaus auch Menschenopfer gebracht, sie allein sollen Rettung bringen.
Unisono werden Aufschwünge herbeigebetet, Konjunkturerholung gepredigt, Besserung gelobt, wenn wir nur alle Arbeit, Arbeit, Arbeit in unserem Herzen tragen.
Fakt ist, der Arbeitsmarkt kann nicht allen Arbeit geben und wahrscheinlich ist, dass technologischer Fortschritt, Rationalisierungsprozesse, Globalisierung in ihrem Lauf nicht aufzuhalten sind und wir ernsthaft über Alternativen zur Arbeit nachdenken müssen.

„Der Emanzipation des Arbeiters zum Bürger die Emanzipation des Bürgers vom Arbeiter folgen zu lassen, ist das der neuen Linken aufgetragene Projekt. Das bedeutet zweierlei: materielle Sicherung und kulturelle Befähigung zu einem Leben ohne Arbeit.“ so W. Engler.

Wie sich den Bürger nicht als Arbeitenden vorstellen? Ohne Arbeit sein bedeutet für die Mehrheit der Menschen vor allem eines: tatsächlicher materieller Mangel und das Gefühl, versagt zu haben: Sein Leben nicht in den Griff zu kriegen, die falsche Ausbildung gemacht zu haben, am falschen Ort zu leben, überhaupt auf der falschen Seite des Lebens zu hausen. Die Folge davon sind Ströme von Menschen, die wegen Arbeit mobil sein müssen, Haus , Frau, Mann und Kinder verlassen, um der Arbeit zu folgen. Die nächste Regierung wird alle Regulierungen zum Schutz des Menschen vor der Arbeit fallen lassen, die Menschen werden einem Markt preisgegeben, auf dem weder Tarifverträge, noch Stundenbegrenzung, weder Umweltschutz, noch ein Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit Bestand haben. Wir werden alle angesichts und in Hoffnung auf Arbeit Opfer bringen, so hören wir es täglich von den Kanzeln der Neuzeit: aus den Medien.
Und es ist wie im Mittelalter gefährlich diese Religion mit ihren Göttern nicht anzubeten.
In einer Gesellschaft, in der 10 Prozent der Bevölkerung 90 Prozent der materiellen Werte besitzen, darf man nicht auf diese himmelschreiende Ungerechtigkeit hinweisen. Im Gegenteil, dies ist ja das Paradies, in das wir alle kommen, wenn, ja wenn wir nur genug arbeiten (und nochmals arbeiten, beten reicht nicht mehr)). Oder wenigstens bei Günter Jauch unsre erste Million machen. „Wer wird Millionär?“ ist der mediale Gottesdienst für Millionen, in der die Hoffnung und der Glauben an die Materie gepriesen wird. Jeder kann es durch ein bißchen Glück doch schaffen: vom Tellerwäscher, nein vom Besserwisser zum Millionär.

So werden von uns Bürgern, die wir alle ja noch arbeiten wollen, Dinge verlangt, die wir eigentlich kennen sollten:
an erster Stelle: bedingungsslose Mobilität:
Erwarte nicht, dass die Arbeit zu dir kommt; Gehe du zur Arbeit, auch wenn dies mehr und mehr Kilometer sind
dann : Impulsivität: Konsumiere, was das Zeug hält, kauf ein, was dir vor die Nase kommt, vergiss die Einkaufsliste, sei spontan und kaufe, was du nicht brauchst, das erhöht das Wirtschaftswachstum.
Und vergiß die Konzentration: nicht ein Beruf, wird dich durch das Leben begleiten, du wirst viele Jobs machen, mal hier mal dort, mal kurz mal lang.
Richtig! Mobilität, Impulsiviät und Konzentrationsschwäche sind die Hauptmerkmale der Störung, mit der wir gerne unsere Kinder diagnostizieren: AD(H)S. Um die Arbeitsgesellschaft am Laufen zu halten, brauchen wir Verhaltensweisen, die wir bei den Kindern dieser Gesellschaft als Symptome einer Krankheit diagnostizieren. Echt krank, nicht wahr?!
Und noch kränker wirken diese Typen von Politikern, wenn sie vehement für die Fortführung dieses Wirtschaftens eintreten und gleichzeitig Werte fordern wie Intaktheit der Familie, lebenslange Treue, Religiosität und Gemeinsinn.
Während einerseits Lebens- und Arbeitsverhältnisse einzelner Menschen zugunsten von Arbeit flexibilisiert, fragmentarisiert, globalisiert und liberalisiert werden, sollen diese Menschen gleichzeitig Tugenden aufrechterhalten; die auf der Grundlage von Kontinuität, Sesshaftigkeit, Religiosität und Erfahrung von sozialer (Dorf-) Gemeinschaft gewachsen sind.
Moderne Arbeitsverhältnisse fördern keine Tugenden, sondern rufen Krankheiten und soziale Zerstörung, mindesten aber AD(H)S hervor.
Wie sollen junge Menschen, ohne feste Anstellung, aber mit mehreren Honorarjobs, mal in Berlin, mal in Hamburg, mit verschiedenen Lebensabschnittspartnern, Familie, Haus und Heimat finden. Selbst wenn sie wollen, die Verhältnisse wollen was anderes.
Aber wozu haben wir die Konservativen in unserem Land: sie reden von geistiger Erneuerung, statt an die Pfründe der Reichen zu gehen, sie reden von Moral, statt Verhältnisse zu ändern. Statt Politik zu machen, sprich Strukturen, Verhältnisse den Menschen anzupassen, predigen sie Moral, mit der sich viele Menschen sich den von wenigen Menschen geschaffenen Verhältnissen anpassen sollen.
Aber das wird schwierig werden, weil Moral nur dort funktioniert, wo noch ein Gemeinsinn vorhanden ist. Hier zeigt der Anarcho-kapitalismus Wirkung: uns mangelt es an Idealen und Werten, wir sind nur an Materie interessiert: an Geld. Und hier schliesst sich vorläufig der Kreis: Das Kapital frisst seine Kinder. Es wird nicht funktionieren, dass wir Arbeit über alles stellen und gleichzeitig noch Tugenden pflegen.

Der Niedergang

Und es hat sich ausgewachsen: Das ist ein ganz natürlicher Prozess. Der Westen in seiner langen industriellen Tradition schaut mit Schrecken nach Osten, dort wo das Wachstum unter furchtbaren Bedingungen boomt: Fehlender Menschen- und Umweltschutz, fehlende Gewerkschaften, fehlender Kündigungsschutz machen dort die Arbeit billig und ermöglichen uns billig, billig, billig einzukaufen.
Einfach so, aus Gründen der Gerechtigkeit, aus natürlichen, aus rhythmischen Gründen gehe ich davon aus, daß wir im Westen den Osten weder in seinem Wachstum einholen, noch unseren Vorsprung bewahren, noch alles beim Alten bleibt - wie der Neuanfang einer Angela Merkel suggeriert. Nein, wir werden uns mit völlig anderen Gangarten und Denkweisen beschäftigen dürfen, eher müssen. Wir werden lernen müssen, neue Bewegungsarten zu pflegen (und hier kommen wieder die Bewegungslehrer ins Bild).

Zuerst einmal : der Niedergang.
Aus jugendlicher Perspektive eine Katastrophe, gleichzusetzen mit Versagen und mangelndem Stehvermögen. Niedergehen - nie! Es sei denn, man wird gezwungen, dann leidet man darunter wie Sau - Niedergang und Niederlage sind eins. Ganz anders der reife Mensch, der weiß, wann es Sinn macht nieder zu gehen, der das auch mal mit Ausruhen und Nachgeben verbinden kann. Ebenso der religiöse Mensch, der weiß, dass er in die Knie gehen muß, angesichts der Größe Gottes, des Universums, ebenso wie der Liebhaber, der angesichts der Schönheit seiner Geliebten niedergeht und sie anbetet.
Ist es nicht so, dass unter den Besuchern von Sado-Maso- Damen die Mächtigen führend sind, um dort endlich mal niederzugehen, unterwürfig zu sein.
Entdecken wir also den Wert des Niedergangs. Blickt man in die Presse, hört man den Politikern zu, dann hören wir, wir befinden uns am Abgrund. Jeder Wanderer weiß, daß man Abgründe, Täler umgehen oder überbrücken kann - wenn sie nicht zu groß sind; ab einer gewissen Größe bzw. Tiefe macht man sich stillschweigend an den Abstieg und verlässt die lichten Höhen.
In Europa verabschieden wir uns von der Alterspyramide: Wachstum wird von Alterungsprozessen abgelöst, Aufwachsendes wird wenig, Niedergehendes mehr werden. Anti-Aging Cremes, Fitness für Senioren und alte Gesichter werden den Alt - tag bestimmen.
Wir leben in einem Kulturraum, in dem sich ungeheurer Reichtum angesammelt hat- jetzt könnte die Zeit der Ernte kommen. Es ist Herbst in dieser Gesellschaft. Und mit etwas Vertrauen in natürliche Erfahrungen, können wir auf einen goldenen Herbst hoffen. Wo sich Entspannung und Trägheit mit der Melancholie des Abschiedes verbindet. Wo sich Zeit findet, die Tage kürzer werden und lange Abende zur Besinnung einladen - und wo die Dunkelheit Nachtgespenster, Angst und Grusel hervorbringt- eine schöne Zeit und dann erst kommt der Winter, wo alles niedergeht und zur Ruhe kommt.
Wer kann diese Verbindung annehmen, diesen Rhythmus leben? Als Gesellschaft gebärden wir uns jugendfixiert, dem ewigen Frühling verbunden, beten zum immerwährenden Wachstum und verdrängen den Tod.
Der steht aber nun mal vor der Tür. Noch sind die Gesundbeter des Arbeitsmarktes unterwegs und schaffen Verwirrung kurzfristiger Gewinne wegen. Wir gewinnen wesentlich mehr, wenn wir uns auf die andere Gangart einlassen und den vorhandenen Reichtum endlich genießen statt immer mehr anzuhäufen.
In der Zwischenzeit haben die meisten von uns mehr Musik, Bilder, Filme in unsren Speichern gehortet als wir jemals in einem Leben hören und sehen können. Wir haben noch nicht einmal unsere Erfindungen Auto, Computer usw. begriffen und verdaut und erfinden täglich mehr Dinge, die wir nur noch zu Bruchteilen benutzen können. Wir könnten uns mal zurücklehnen und anfangen zu leben, anstatt es zu dokumentieren, zu archivieren, zu sortieren und immer mehr von Dingen zu schaffen, die wir nicht gebrauchen können. Wieviel Millionen Sonnenuntergänge sollen denn noch geknipst, gesimst und gefilmt werden.
Herr, die Zeit war groß, aber es reicht.
Wir wenden uns dem Niedergang zu, befreien ihn vom schlechten Geschmack. Ihn zu verdrängen und zu bekämpfen, zeugt von mangelnder Wahrnehmung und Realitätsferne; er ist unvermeidlich. Mit welcher Energie wollen wir dem Unvermeidlichen begegnen?
Mit Kampf, Zorn und Widerstand oder entspannt, der Realität ins Auge sehend.
Unsere Kultur kann weltweitführend bleiben, wenn sie ihr Aufgeben als Aufgabe begreift. Wir können Vorbild werden für den Umgang mit geschaffenem Reichtum. Wie man ihn genießt, statt zu vermehren, wie man lebt jenseits von der Mühe von Arbeit und Plage:
Bei Edison, wozu haben wir dies wunderbaren Maschinen erfunden: Auto-mobile, Haushaltsgeräte, Computer und Vergnügungskonsolen? Wozu haben wir uns von der christlichen Religion emanzipiert. Nur um weiterhin im Schweiße unseres Angesichtes dem biblischen Auftrag: „macht euch die Erde untertan“ gerecht zu werden. Wir haben ihn längst ausgeführt, übererfüllt: wir haben einen neuen: Entspannt euch, zeigt der Welt, wozu Reichtum da ist: Genießt.
Wir sollten nicht mit China und anderen jugendlichen Kapitalisten konkurrieren, wir müssen weitergehen und zeigen, dass nach dem Wachstum etwas anderes kommt: Genuß, Menschlichkeit, Spiritualität, Lust und Genügsamkeit. Reichtum in seiner besten Version, der Natur und dem Universum abgelauscht. Pflege von Unterschieden, Lebensformen und Vielfalt. Freude amLeben. Der Katalog der Aufgaben, die auf uns zu kommen ist lang und die meisten davon kann man nur mit einer gewissen Reife und Altersweisheit leben. Aber genau da stehen wir als Gesellschaft - im Herzen Europas, dessen Weisheit für die Welt wichtiger als je zuvor ist.
Wir werden das alles nur mit Katastrophen erleben, da die wirtschaftliche Macht und ihre politischen Helfer, diese Weisheit nicht besitzen und im jugendlichen Wachstumswahn weiterhin hyperaktiv bleiben. Die Veränderung sind unvermeidlich und wer klug ist, rechnet mit ihnen. Rechnet mit einer „Utopie des glücklichen Niedergangs, der kreativen Faulheit, der Freundschaft und der Pflege“ (F. Berardi: Die Macht des Niedergangs. in der taz vom 10/11. September 05)

Anleitung zum Müßigang

Aber von allein schaffen wir das nicht: sich ein Leben ohne Arbeit vorzustellen.
In einer Gesellschaft, in der auf den Begriff „Freizeit“, sofort der Begriff „sinnvolle“ Freizeitaktivität“ , auf „Urlaub“ sofort „Aktivurlaub“ folgt, in der ist eine Bewegungsform wie Müßiggang ernsthaft bedroht. Genauso wie in diesen Gesellschaften das Spielen bedroht ist. Das Spiel taucht zwar allenthalben auf, am liebsten aber in der Mogelpackung „spielerisch lernen“.
Müßiggang, Spiel, Entspannung, Erholung gelten als große Ausholbewegung, um besser zu lernen, zu arbeiten, zu sein, zu leben. Sie beziehen ihren Wert nur aus der Tatsache, daß Pausen sinnvoll und effektiv sind. Sie werden geduldet, aber nicht gefeiert.
Eben Aktivurlaub, damit man sich nicht ganz auf die faule Haut legen kann. Arbeit adelt und wer keine hat, dem droht der Absturz.
Der Müßiggang ist eine bedrohte Bewegungsform
Bewegung ist Leben und wer richtig leben will, soll sich viel bewegen: Sport treiben, Aktivurlaub buchen. Mindesten laufen: Joggen, Walken. „Runter vom Sofa, mach was aus dir, bring dich in Form, halt dich gesund - beweg dich“ so schreit es von allen Wänden und aus allen Kanälen. Fit ist schön, macht fun und viele auch verrückt. Erfolgreich ist, wer sich bewegt. Selbst Entspannung kommt als PowerYoga und Wellnessurlaub daher.
Die 60 Stunden Aktiv-Woche adelt den Workoholic.
Und dann das Thema ADHS: die unzähligen Zappler, die es in den letzten Jahren schafften, Bewegung und Aktivität in standesgemäß eher betuliche Gebiete zu bringen: In die Erziehung. Berge von Literatur wurden für sie gezeugt, Ausbildungen, Fortbildungen, Programme aufgelegt. Emsiges Bestreben der kindlichen Überaktivität Herr zu werden.
Und der Müßiggang auch hier vom Aussterben bedroht. Wer möchte angesichts der Probleme von ADHSlern schon zur Ruhe raten. Da muß doch was getan werden. Dringend, ernsthaft und bitte mit Anstrengung. Anstrengung, Bemühen und Aufmerksamkeit wird gefordert.
Aufmerksamkeit ist Anfang und Ende, das Heilige in der neuen Welt: „Bleiben Sie dran.“
Aufmerksamkeit wird zur einzigartigen, hohen Tugend; die Störung der Aufmerksamkeit zur Krankheit, zum Verderben.
Für Menschen wie unsereins fängt es schon morgens an: Überhöre ich den Wecker und bleibe liegen oder folge ich dem Aufmerker und Aufwecker, wenn er mich aus meinen Träumen reißt. Impulsiv stopfe ich dem Aufmerksamkeitsheischer das Maul, um fünf Minuten später, mich an meine Haupttugend erinnernd, auf zu stehen. Einem anderen als meinem Rhythmus zu folgen. Dies Tugend wird mit Beginn der Schule zur Haupthausaufgabe. Schüler lernen als erstes den Wecker zu stellen. Und mit ihnen ihre Eltern, selbst wenn sie es jahrzehntelang in freier und selbständiger Tätigkeit zu einem Leben ohne Wecker brachten. Öffentlich rechtlich wird geweckt. Aus dem Schlaf gerissen, das faule Liegen unterbrochen, der Wärme beraubt, den Küssen entzogen, den Liebsten entfremdet.
Wir müssen aufstehen, den Tag beginnen. Wenn man neueren Forschungen zum Biorhythmus folgt, dann wäre ein großer Schritt zu wirklichen humanen Reformen des Schulwesens, die Verschiebung ihrer Öffnungszeit. Kindgerecht wäre ein Schulbeginn um 9.00 Uhr. Nicht nur aufgeweckte, sondern auch ausgeschlafene Kinder kämen ausgeruht in den in den Unterricht. Voller Ruhe könnte man gelassen den Tag beginnen.
Aber die Erwachsenen leben es vor. Coffee to go, geht's vom Bett an die Arbeit. Während Langschläfer und Warmduscher sich noch pflegen, fängt der frühe Vogel den Wurm und hat Gold im Mund.

Nochmal zur Erinnerung: Solch grässlichen Gewohnheiten entstammen der industriellen Revolution, die ist längst vorbei, die Zeit hat sich geändert, jetzt sollten wir auch die Sitten ändern und.... liegenbleiben.
Wer nur jeweils den Bedeutungen von „Aufstehen, Aufstand, Aufrichtung“ nachschmeckt und sie mit „Liegenbleiben, am Boden und Hängenlassen“ vergleicht; der ahnt, wie schwer es der hat, der liegenbleibt. Dagegen ist die Schwerkraft, gegen die wir aufstehen eine leichte Bürde.
Angesichts der Fröhlichkeit und übersprudelnder Aktivität von Morgenshows und Frühstücksfernsehen ist der Rest des Tages eine Trauerveranstaltung. Bummeln kann man am späten Nachmittag, morgens ist Frische angesagt.
So werden tagtäglich Millionen betrogen: um ihre Träume, um Wärme, um Kuscheln und Sex und vor allem um Zeit. Zeit für Müßiggang.

BewegungserzieherInnen, MotopädInnen wissen um den Wert von Spannung und Entspannung. Von Bewegung und Wahrnehmung. Bewegung und Wahrnehmung sind eins. Und dennoch hat die Wahrnehmung ab und die Bewegung zugenommen. Die Beschleunigung erzeugt Wahrnehmung von sich, viel Beschleunigung erzeugt nur noch die Wahrnehmung ihrer selbst, alles andere verschwindet im Rausch der Geschwindigkeit. Da kann einem schon mal Sehen und Hören vergehen. Der Reiz der Beschleunigung folgt demselben Gesetz wie andere Wahrnehmungsvorgänge auch: es braucht den Unterschied, damit wahrgenommen werden kann. Beschleunigung will mehr Beschleunigung, schneller, weiter, höher. Wachstum, Wachstum, Wachstum.

Bremsen, geht nicht, was geht :
Austreten. Liegenbleiben. Müßiggang einlegen.
Dinge liegenlassen, Zuhause bleiben, plaudern, plauschen.
Bummeln, meditieren, spinnen, rumhängen.

Noch hat der, der diese Tätigkeiten pflegt, ein Imageproblem. Wer mit beiden Beinen fest im Geschäftsleben steht; tut, macht, schafft, rackert und rödelt. Was man so alles tun soll. Bleiben wir im Bewegungsgeschäft: Leuchtende Beispiele emsiger Geschäftigkeit, wohin man schaut. Rasante Beschleunigung in allen Bereichen. Wie Pilze gedeihen im feuchtwarmen Klima des Wachstums- und Entwicklungswahn, Aktivitäten, Programme und Methoden, Techniken und andere Düngemittel, von denen man sich eine Verbesserung des Wachstumsertrages verspricht.
Ich rede von Kindern, denen in diesem Klima von Beschleunigung und Wachstumswahn die Kindheit abhanden kommt.
Kaum auf der Welt wird be- und gefördert: Im Maxi-kosy zum Säuglingschwimmen, in Windeln zum Pampersturnen, mit dem Dreirad in die Zirkusschule, mit den Auto zum Psychomotorikturnen.
Und aus Angst, daß unser Kind liegen- oder hängenbleibt, gehen wir Eltern los. Aufgescheucht von Fachleuten, die ein Defizit nach dem anderen formulieren, und hingerissen von Versprechungen, tun wir alles für die Zukunft unserer Kinder. Wir.
Und was tun die Kinder? Sie werden be- und gefördert: Raus aus der Stube, hinaus zum Förderprogramm.
Die Angst vorm Stillstand ist ein Treibstoff, der vieles in Bewegung bringt.

Der Arbeitsauftrag: Spielen

Die kulturelle Befähigung zu einem Leben ohne Arbeit wird zum Arbeitsauftrag an Pädagogen und vor allem an Pädagogen, die den Leib, seine Erlebnis- und Handlungsfähigkeit als Zentrum ihrer Arbeit sehen. An uns Moto- päden, Bewegungslehrern, an alle, die zur Kultur eines Lebens ohne Arbeit beitragen können.
Für dieses Leben brauchen Menschen bestimmte Fähigkeiten: die Fähigkeit zur Selbstorganisation und Selbstverwirklichung, die Fähigkeit zur Orientierung im unübersichtlich gewordenen gesellschaftlichem Raum, die Fähigkeit, Freizeiten und Freiräume creativ zu nutzen und zu gestalten.
Der Kampf ums tägliche Brot ist angesichts der Mengen von Essbaren, welches stündlich vernichtet wird, eine Obszönität. Realität ist, dass genug da ist, wie verteilt wird, das steht auf einem anderen Blatt. Wir haben die historische Chance den Kampf um das Überleben entspannt zu führen und uns von den Konzepten von Anstrengung, Arbeit, Schweiß und Tränen zu verabschieden. Dass dagegen alle Munition ins Feld geführt wird , ist mir klar. Doch die Menschen, die aus Arbeitsprozessen freigesetzt werden, werden zahlreicher und für sie können diese alten Anschauungen nicht mehr gelten. Für diese Menschen ist die Forderung und Hoffnung auf Rückkehr in alte (Arbeits)Verhältnisse eine andauernde Bedrohung ihrer Identität. Die konstant unsichere Erfahrung, dass ihnen gerade das nicht mehr gelingt, erzeugt Gefühle von Bedrohtsein und Unvermögens, welche zutiefst unmenschlich sind und sie in ihrer Existenz verunsichern, verneinenund vernichten.
Die Gesellschaft von heute und von morgen verträgt keine 5 Millionen Arbeitslose auf Dauer, nicht weil sie das nicht finanzieren kann, sondern weil wir nicht 5Millionen Leben auf Dauer von gesellschaftliche Teilhabe ausschließen können, nur weil wir Arbeit wichtiger nehmen als Menschen.

Mit dieser Klarheit müssen wir uns der zweiten großen Realität des Menschenlebens zuwenden: dem Spiel.Die Politik, die die Realität „Arbeit“ ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, ist gerade am scheitern. Unsere Existenz ist gesichert, die Erträge unsrer Arbeit groß, nur wir haben Probleme, uns von der alten christlich fundierten Arbeitsreligion zu verabschieden.
„Demgegenüber steht die Realität des Spiels, von der man annimmt, dass sie dem Menschen zur Nutzung vieler in ihm vorhandener Fähigkeiten verhelfen wird, auf Grund derer er imstande wäre, seine Probleme von vielen Seiten anzuschauen, verschieden Lösungen zu finden...“ Wils, S. 21

So steht an: die Anstrengung, die Bewegung zu stoppen und im gefundenen Sinn zur Ruhe zu kommen; sich zu verabschieden von Machtpolitik, Vorherrschaft und aggressiven Gestaltungen, vom Leistungsprinzip und den Genuss etablieren.
Wir haben viel erreicht, viel realisiert und sollten uns erlauben, da auch mal zu verweilen.
Die Deutschen hätten den Stillstand gewählt - so lamentieren die Politiker, die uns neue Anfänge, weiteres Wachstum und Vollbeschäftigung bei entsprechendem Verzicht in Aussicht stellten. Und der Souverän, das Volk hat womöglich weise gewählt. Zwingt die Aktivisten zum Nachdenken, stoppt den Wahn des Weiter so - weiß aber auch nicht, was dies tatsächlich bedeuten könnte.
So könnte die Konsumgesellschaft tatsächlich zu ihrem Höhepunkt gelangen und endlich, das einlösen, was Konsum auch schon immer war: das Angebotene in allen Teilen zusammen zu fassen, zu nehmen und sich dabei gut fühlen.
Die kreativen Fähigkeiten für die Zukunft meinen nicht schon wieder ein „Andauernd neu Kreieren“, andauernd Neues erschaffen. Das Neue meint nicht schon wieder eine neues Modell, was man haben muß.
Kreativität wird sich vielmehr darin zeigen, dass mit dem, was vorhanden ist, neue Verbindungen eingegangen wird. Dass wir im Stande sind, neue Beziehungen einzugehen, dass wir unser Dasein zugänglicher machen und unser Sein und nicht das Haben bereichern.
Dies sehr wohl auch im Sinne der viel geforderten Nachhaltigkeit.
Dazu gehört, sich zu verabschieden von der Idee des „göttlichen“ Schaffens, von dem aggressiven Impuls, sich die Welt untertan zu machen und sich dem Niedergang hinzuwenden: Die Zahl der Objekte, die wir besitzen, muss schrumpfen und dann gewinnen wir alle das, was allen fehlt: Zeit. Wenn wir nicht dauernd Neues schaffen müssen, dann gewinnen wir die Zeit, das Bestehende zu genießen, mit ihm in einen spielerischen Umgang zu kommen.“..im gefundenen Sinn zur Ruhe kommen und sich daran erfreuen. (Wils, S. 51)

Dann kann endlich Schillers Satz nach 200 Jahren wahr werden:
„Nur dort, wo der Mensch spielt ist er wahrhaft Mensch.“

P.S. „Jedes Jahr sterben weltweit mehr als 2,2 Millionen Menschen durch Unfälle und Krankheiten aufgrund ihrer Berufstätigkeit. Aufgrund der schlechten Datenlage könnte die Zahl noch wesentlich höher liegen, heißt es in einer neuen Studie der Internationalen Arbeitsorganisation(ILO). Sie ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen“ (Welt kompakt vom 24.10.05)

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Literatur:

Lex Wils (1977): Spielenderweise. Hans Putty Verlag

Tom Hodgkinson (2004): Anleitung zum Müßiggang. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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